Montag, 30. September 2013

Eudaimonia und Sumak Kawsay - vom Ziel des guten Lebens in der griechisch-antiken und andin-indigenen Tradition

Eudaimonia und Sumak Kawsay – vom Ziel des guten Lebens in der griechisch-antiken und andin-indigenen Tradition

In Europa neigen wir dazu, alle Errungenschaften der Moderne als Produkt der aufklärerischen Tradition zu verstehen. Dabei verstehen wir die Entwicklung von Zivilisation und funktionierender Wertesystemen als Teil des scheinbar genuin europäischen Projekts der Aufklärung.
Dieses, sich auf Europa als vermeintliches Zentrum der kultivierten Welt konzentrierende Weltbild nennt sich Eurozentrismus. Mit wachsendem Selbstbewusstsein der sogenannten Entwicklungsländer gerät dieses Weltbild zunehmend unter Druck.
Die große Dominanz europäischer Geisteswissenschaften beruht unter anderem auf die Schriften und ganz  besonders auf die Ethiken antiker Philosophen. Dabei vergessen wir, dass diese Schriften ohne die enorme wissenschaftliche Leistung der maurisch-muslimischen Übersetzer und Interpreten des maurischen Großreiches in Andalusien (bis zur Reconquista 1492) und Nordafrika heute überhaupt nicht mehr erhalten wären.
In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass sich abseits von Europa und unabhängig von den europäischen und später angloamerikanischen Zivilisierungsversuchen ganz eigene Lösungsansätze, Traditionen und Wertesysteme gebildet haben. Besonders Krisenzeiten, in denen lange angesehene Orientierungspunkte durch neue wirtschaftliche und naturwissenschaftliche Herausforderungen wegzubrechen drohen, lohnt es sich, auch abseits der europäischen Tradition nach Auswegen und Lösungsansätzen zu suchen.
Viele Philosophen und kritische Ökonomen forderten im Zuge der multiplen Krisen und dem Wegfall derk klaren, bisher gültigen Dogmen wie „Mehr Wachstum und Konsum = mehr Lebensqualität“  eine Rückkehr zu den Lehren der Antike. Besonders der Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) warnte bereits die antike Gesellschaft Athens davor,  in den Strudel des ewigen Strebens nach Mehr zu geraten:
„Grund für die Gesinnung ist die emsige Bemühung um das Leben, doch nicht um das gute Leben, weil aber jenes Begehren ins Grenzenlose geht, so begehren sie auch unbegrenzte Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen.“ (Aristoteles, Politik: 1257 b - 1258 a1).
Als Alternative zu diesem Irrweg erklärt Aristoteles die Eudaimonia als oberstes Ziel. Eudaimonia bedeutet etwa „das gute, glückselige Leben“ und charakterisiert sich vor allem durch Tugendhaftigkeit und der Orientierung am „rechten Maß“. Grenzenloses Wachstum und grenzenlose Bereicherung ist dabei nicht vorgesehen, da eine Bemühung um diese Güter den Menschen nur vom tatsächlichen Ziel des menschlichen Lebens, dem guten Leben ablenken würde. Wer Reichtum zum obersten Ziel erkläre verwechselt laut Aristoteles das Mittel mit dem eigentlichen Zweck.
Dieses Konzept der Wirtschaft als „Dienstleister des guten Lebens“ verlor in Europa besonders im Zuge der Industrialisierung an Wirkmächtigkeit und feiert erst aufgrund der Krisen der letzten Jahre seine Renaissance. Ein ähnliches Weltbild der indigenen Andenvölker des heutigen Bolivien und Ecuador konnte sich währenddessen gegen die Ökonomisierung der Welt behaupten und wurde bereits kurz nach der Jahrtausendwende in die Verfassungen der beiden Länder erhoben. Die Rede ist von dem Streben nach „Sumak Kawsay“, was auf Quechua so viel bedeutet wie „gutes Leben“ und hier weiter erläutert werden soll.
Bereits lange vor der Eroberung des amerikanischen Kontinents durch die Europäer und die Unterdrückung der indigenen Lebensformen durch aggressive Missionierung verfügten die Völker der andinen Regionen Südamerikas über eine gewachsene Ethik mit klaren Werten und Normen. Ähnlich wie beim aristotelischen „guten Leben“ handelt es sich bei „Sumak Kawsay“ keinesfalls um eine light-version des Lebens oder den Versuch, das dolce-vita-Gefühl als Ethik zu verkaufen. Stattdessen steht ein enges Verhältnis des Menschen zur Natur im Mittelpunkt. Die heilige Pachamama wird als eigenständiges Subjekt verstanden – inklusive eigener Rechte und Schutzanspruch. Auch wird Entwicklung keinesfalls als linearer Prozess von schlecht einem schlechten und zu überwindenden Zustand zu einem guten, lebenswerten, von unterentwickelt zu entwickelt, verstanden. Stattdessen gilt das ganze Leben als Entwicklung,  eine sich ständig selbst konstruierende und reproduzierende Kategorie.
Materieller Wohlstand tritt in diesem Verständnis in seiner Bedeutung hinter Werte wie Wissen und Erfahrung, soziale und kulturelle Anerkennung oder den Einklang einer Gesellschaft mit der Natur zurück.  Eine Konzentration auf das Streben nach einem guten Leben im Sinne des Sumak Kawsay hätte entsprechend eine vollkommene Umorientierung zur Folge. Zentrales Element ist die Bedeutung der Vereinbarung menschlichen Lebens mit der Natur als Lebensraum.
Bolivien und Ecuador haben weite Teile dieses indigenen Wertekodex in ihre modernen Verfassungen aufgenommen. Sogar die Nennung der Natur als schützenswertes Subjekt fand Eingang in die Gesetzestexte. Ein Versuch der Umsetzung dieser, oftmals als Utopie belächelten Zielsetzungen stellt beispielsweise die vieldiskutierte Yasuní-Initiative Ecuadors dar. Kernidee des Projekts war es, verfügbare Ölressourcen in ökologisch und anthropologisch sensiblen Regionen des Yasuní-Nationalparks bewusst nicht zu fördern. Weltweit warb das Andenland – auch dank einer Ablehnungspolitik Deutschlands leider weitestgehend erfolglos -  um Unterstützung für die Schutzmaßnahme des Ökosystems.

Trotz des Scheiterns dieser Initiative zeigt sich, dass neue Lösungen nicht immer aus Europa oder Nordamerika kommen müssen und sich ein Blick auf die Traditionen anderer Kulturräume, wie z.B. Lateinamerika für jeden lohnt, der auf der Suche nach anderen Ansätzen und Denkmustern ist.