Eudaimonia und Sumak Kawsay – vom Ziel des guten
Lebens in der griechisch-antiken und andin-indigenen Tradition
In Europa neigen wir
dazu, alle Errungenschaften der Moderne als Produkt der aufklärerischen
Tradition zu verstehen. Dabei verstehen wir die Entwicklung von Zivilisation
und funktionierender Wertesystemen als Teil des scheinbar genuin europäischen
Projekts der Aufklärung.
Dieses, sich auf Europa
als vermeintliches Zentrum der kultivierten Welt konzentrierende Weltbild nennt
sich Eurozentrismus. Mit wachsendem Selbstbewusstsein der sogenannten
Entwicklungsländer gerät dieses Weltbild zunehmend unter Druck.
Die große Dominanz
europäischer Geisteswissenschaften beruht unter anderem auf die Schriften und
ganz besonders auf die Ethiken antiker
Philosophen. Dabei vergessen wir, dass diese Schriften ohne die enorme
wissenschaftliche Leistung der maurisch-muslimischen Übersetzer und Interpreten
des maurischen Großreiches in Andalusien (bis zur Reconquista 1492) und Nordafrika heute überhaupt nicht mehr
erhalten wären.
In diesem Beitrag möchte
ich zeigen, dass sich abseits von Europa und unabhängig von den europäischen
und später angloamerikanischen Zivilisierungsversuchen ganz eigene
Lösungsansätze, Traditionen und Wertesysteme gebildet haben. Besonders
Krisenzeiten, in denen lange angesehene Orientierungspunkte durch neue wirtschaftliche
und naturwissenschaftliche Herausforderungen wegzubrechen drohen, lohnt es sich,
auch abseits der europäischen Tradition nach Auswegen und Lösungsansätzen zu
suchen.
Viele Philosophen und
kritische Ökonomen forderten im Zuge der multiplen Krisen und dem Wegfall derk
klaren, bisher gültigen Dogmen wie „Mehr Wachstum und Konsum = mehr
Lebensqualität“ eine Rückkehr zu den
Lehren der Antike. Besonders der Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) warnte
bereits die antike Gesellschaft Athens davor,
in den Strudel des ewigen Strebens nach Mehr zu geraten:
„Grund für die Gesinnung ist die emsige Bemühung um das
Leben, doch nicht um das gute Leben, weil aber jenes Begehren ins Grenzenlose
geht, so begehren sie auch unbegrenzte Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen.“
(Aristoteles, Politik: 1257 b - 1258 a1).
Als Alternative zu diesem Irrweg erklärt Aristoteles die Eudaimonia als oberstes Ziel. Eudaimonia bedeutet etwa „das gute,
glückselige Leben“ und charakterisiert sich vor allem durch Tugendhaftigkeit
und der Orientierung am „rechten Maß“. Grenzenloses Wachstum und grenzenlose
Bereicherung ist dabei nicht vorgesehen, da eine Bemühung um diese Güter den
Menschen nur vom tatsächlichen Ziel des menschlichen Lebens, dem guten Leben
ablenken würde. Wer Reichtum zum obersten Ziel erkläre verwechselt laut
Aristoteles das Mittel mit dem eigentlichen Zweck.
Dieses Konzept der Wirtschaft als „Dienstleister des guten Lebens“ verlor
in Europa besonders im Zuge der Industrialisierung an Wirkmächtigkeit und
feiert erst aufgrund der Krisen der letzten Jahre seine Renaissance. Ein
ähnliches Weltbild der indigenen Andenvölker des heutigen Bolivien und Ecuador
konnte sich währenddessen gegen die Ökonomisierung der Welt behaupten und wurde
bereits kurz nach der Jahrtausendwende in die Verfassungen der beiden Länder
erhoben. Die Rede ist von dem Streben
nach „Sumak Kawsay“, was auf Quechua so viel bedeutet wie „gutes Leben“ und
hier weiter erläutert werden soll.
Bereits lange vor der Eroberung des amerikanischen Kontinents durch die
Europäer und die Unterdrückung der indigenen Lebensformen durch aggressive
Missionierung verfügten die Völker der andinen Regionen Südamerikas über eine
gewachsene Ethik mit klaren Werten und Normen. Ähnlich wie beim aristotelischen
„guten Leben“ handelt es sich bei „Sumak Kawsay“ keinesfalls um eine light-version des Lebens oder den
Versuch, das dolce-vita-Gefühl als
Ethik zu verkaufen. Stattdessen steht ein enges Verhältnis des Menschen zur
Natur im Mittelpunkt. Die heilige Pachamama wird als eigenständiges Subjekt
verstanden – inklusive eigener Rechte und Schutzanspruch. Auch wird Entwicklung
keinesfalls als linearer Prozess von schlecht einem schlechten und zu überwindenden
Zustand zu einem guten, lebenswerten, von unterentwickelt zu entwickelt,
verstanden. Stattdessen gilt das ganze Leben als Entwicklung, eine sich ständig selbst konstruierende und
reproduzierende Kategorie.
Materieller Wohlstand tritt in diesem Verständnis in seiner Bedeutung
hinter Werte wie Wissen und Erfahrung, soziale und kulturelle Anerkennung oder
den Einklang einer Gesellschaft mit der Natur zurück. Eine Konzentration auf das Streben nach einem
guten Leben im Sinne des Sumak Kawsay hätte entsprechend eine vollkommene
Umorientierung zur Folge. Zentrales Element ist die Bedeutung der Vereinbarung
menschlichen Lebens mit der Natur als Lebensraum.
Bolivien und Ecuador haben weite Teile dieses indigenen Wertekodex in ihre
modernen Verfassungen aufgenommen. Sogar die Nennung der Natur als
schützenswertes Subjekt fand Eingang in die Gesetzestexte. Ein Versuch der
Umsetzung dieser, oftmals als Utopie belächelten Zielsetzungen stellt
beispielsweise die vieldiskutierte Yasuní-Initiative Ecuadors dar. Kernidee des
Projekts war es, verfügbare Ölressourcen in ökologisch und anthropologisch
sensiblen Regionen des Yasuní-Nationalparks bewusst nicht zu fördern. Weltweit
warb das Andenland – auch dank einer Ablehnungspolitik Deutschlands leider
weitestgehend erfolglos - um
Unterstützung für die Schutzmaßnahme des Ökosystems.
Trotz des Scheiterns
dieser Initiative zeigt sich, dass neue Lösungen nicht immer aus Europa oder
Nordamerika kommen müssen und sich ein Blick auf die Traditionen anderer
Kulturräume, wie z.B. Lateinamerika für jeden lohnt, der auf der Suche nach
anderen Ansätzen und Denkmustern ist.