Wenn Bulldozer auf Tradition treffen
– Zur geplanten Umsiedlung der Tonokoté- Indigenen in Santiago del Estero
Wie wenig Rücksicht angesichts großer Bauvorhaben auf
geschichtlich sensible Orte genommen wird ist, seit dem teilweisen Abriss der
Berliner East Side Gallery zugunsten eines Neubaus, auch in Deutschland
hinreichend bekannt. Während diese Themen hierzulande jedoch in der Regel große
mediale Aufmerksamkeit bekommen, finden Umsiedlungen, Abrisse und Vertreibung
in vielen Teilen Lateinamerikas unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Nicht selten liegt die Verantwortung über die Berichterstattung bei mächtigen
Medienmogulen, die, direkt oder indirekt, von den Bauprojekten und
Landverkäufen profitieren (siehe Artikel zum Mediengesetz in Argentinien).
So lässt sich auch erklären, dass die Öffentlichkeit Santiago
del Esteros erst durch einen verzweifelten Hilferuf in den sozialen Netzwerken
Facebook und Twitter von den Vorgängen erfuhr, die sich direkt neben einem der
beliebtesten Ausflugziele der Stadt, dem Patio Froílan, zugetragen hatten.
Dort, in einer Örtlichkeit namens „Boca del Tigre“ (Mund des
Tigers), lebten bis Ende Mai 2013 dreiundzwanzig Familien der Auqajkuna-Gemeinde, die zum
indigenen Volk der Tonokoté gehören. Die Tonokoté sind ein Volk, das seine
Wurzeln hauptsächlich in den Provinzen Tucumán und Santiago del Estero hat und
dort bis heute versucht, seine Traditionen aufrecht zu erhalten.
Privates Viertel soll
Platz der Tonokoté einnehmen
Im Rahmen eines Immobilienprojekts sollten die 20 Landbesitz
Hektar der Tonokoté nun bebaut werden: geplant war dort ein „Barrio privado“,
also ein privates Viertel.
Dieser Plan stieß jedoch auf den Widerstand der Tonokoté, die
sich weigerten ihr Territorium gegen neue Häuser an anderer Stelle
einzutauschen. Um die Pläne der Regierung, die das Gelände schon an einen
Investor verkauft hatte, zu retten, entschied sich der Richter Guillermo Tarchini Avedra für ein Vorgehen mit der
Brechstange:
Um 5 Uhr morgens wurden die 23 Familien der Gemeinde von
einem Großaufgebot der Polizei der Provinz Santiago del Estero (einer Provinz,
die mit ihrer kulturellen Vielfalt und ihrer indigenen Identität wirbt) geweckt
und ohne weitere Erklärung mithilfe von Hunden, berittenen Einheiten und
Gummigeschossen aus ihren Häusern gezerrt. Im Anschluss an diese Aktion, die zu
mehreren Verletzten, darunter Kinder und eine Schwangere, führte, machten sich
die Einsatzkräfte daran, die Häuser und Gärten der Gemeinde mithilfe mehrerer
Bulldozer dem Erdboden gleichzumachen. Die zwei Anführer und Sprecher der
Gemeinde wurden wegen Widerstand gegen die Zerstörung ihrer Häuser von den Polizisten
festgenommen.
Tageszeitungen
ignorieren Vorgänge
Um die Öffentlichkeit auf die brutale Aktion aufmerksam zu machen,
wurden die schockierten Familienmitglieder der Festgenommenen bei den zwei
wichtigsten Tageszeitungen der Provinz Santiago del Estero „El Liberal“ und „El
nuevo Diario“ vorstellig und übergaben den Journalisten Fotomaterial, Videos
und Zeugenaussagen zu den Geschehnissen. Beide Zeitungshäuser weigerten sich
jedoch, der Bitte um Veröffentlichung nachzukommen.[1]
Erst die Veröffentlichung von Videos der Polizeiaktion auf
Facebook und Twitter führte zu einer Reaktion in der Öffentlichkeit. Zahlreiche
Onlinezeitungen und Bloggs berichteten über die polizeiliche Repression und die
Enteignung der Familien und erreichten so eine große Aufmerksamkeit in der
Zivilgesellschaft Santiagos.
Unter dem daraufhin entstandenen öffentlichen Druck knickte
die Provinzregierung von Gouverneur Gerardo Zamora schließlich ein. Hatten die
offiziellen Stellen bisher jegliche Stellungnahme verweigert, versprach man nun den Wiederaufbau der Häuser
und die Überreichung amtlicher Besitzurkunden an die Familien der Auqajkuna-Gemeinde. Auch die heiligen Stätten der Tonokoté sollen darin respektiert
werden.
Fraglich bleibt jedoch, wie diese Geschichte ohne die beherzte Selbsthilfe der Indigenen ausgegangen
wäre. Denn wenn die Herstellung von Öffentlichkeit schon für gut vernetzten
Bewohner der Provinzhauptstadt derartige Schwierigkeiten bereitet, fällt es
nicht schwer, sich die Hilflosigkeit der isolierten Landbevölkerung
vorzustellen. Erschwerend kommt dort nämlich noch hinzu, dass die Enteigneten
sich meist multinationalen Agrarkonzernen mit starker Rechts- und
Lobbyabteilungen gegenübersehen.
[1] Siehe: http://tiempo.infonews.com/2013/05/25/sociedad-102518-otro-desalojo-a-una-comunidad-indigena-en-santiago-del-estero.php